Nach vielen Jahren der Mitgestaltung der Augustfeier und Vorbereitung einer Rede haben wir nun frei und freuen uns auf eine dreistündige Abend-Rundfahrt auf dem Bodensee.
Schon bei der Anfahrt auf der Autobahn überrascht uns ein heftiges Gewitter, und ein an einer Leitplanke gelandeter Sportwagen erinnert uns an das mögliche Aquaplaning nach der langen Trockenzeit.
Doch dann wird es wieder trocken und freundlich und am Hafen von Rorschach warten bereits viele Menschen auf die MS Zürich.
Rundum leuchten Sturmwarnungen auf und warnen mit gelb blinkendem Licht, den See zu meiden.
Doch unser Schiff bahnt sich seinen Weg durch die bereits hohen Wellen zu uns an den Steg.
Instinktiv drängt sich die Menge zum Einstieg, denn jeder will für sich den besten Platz erobern, und diese werden bei dem sich ankündenden Sturm nicht draussen auf Deck sein.
Obwohl alle wissen, dass nur einsteigen kann, wer aussteigen lässt, muss das Personal erst um eine „hohle Gasse“ bitten, und diese fällt so schmal aus, dass sich die Aussteigenden in Einerkolonne einen Weg bahnen müssen, Behinderte und Velofahrer bitten darum, etwas mehr Platz zu bekommen.
Schon giftelt ein Mann zurück, und ein erstes wüstes Wortgefecht beginnt.
Doch heftig niederprasselnder Regen lenkt vom Geplänkel ab, um dann die Szene erst recht zu puschen.
Einige stossen und drängen jetzt, um vor den letzten Austretenden ins Schiff zu kommen, damit sie nicht nass werden. Andere versuchen, ihren Schirm zu öffnen, der sofort weggeblasen oder umgekippt wird, weil nun ein Sturmwind aufbraust.
Einzelne schreien und fluchen, drücken und schieben, andere mahnen zur Ruhe, und ich habe nur einen Wunsch: Weg von hier und hinein in eine gemütliche Hafenbeiz.
Doch meine Männer möchten sich das Abenteuer auf dem See nicht entgehen lassen, und wir setzen uns an einer geschützten Stelle nach draussen, wo viel Platz ist, weil sich alle in die inneren Räume drängen, obwohl es da zum Ersticken heiss ist.
Nach einigen Minuten besinnenden Abwartens entschliesst sich der Kapitän, trotz allem zu fahren und kämpft eine gute Viertelstunde gegen die immer grösser werdenden Wellen.
Schon ziemlich feucht, verziehe ich mich trotz Hitze in den Schiffsbauch, tief unten und setze mich auf einen der improvisierten Festbänke.
Eine Kellnerin gibt zu, dass sie mit schönem Wetter gerechnet hätten: „Dann halten sich die Leute gern draussen auf und die Menge verteilt sich. Jetzt aber, wo alle drinnen essen und auch verweilen wollen, kann ich für niemanden einen Sitzplatz garantieren, auch wenn er reserviert hat.“
Zudem hat ein Genfer Car ein grosses Restaurantabteil für sich beansprucht, und die vorab älteren Damen und Herren, zum Teil von ihrem Rollator unterstützt, lassen es sich nicht nehmen, ihr bestelltes Menu zu verspeisen. Schaukelwellen hin oder her.
Obwohl der Kapitän inzwischen gewarnt hat, wegen des Wellenganges sitzen zu bleiben, rennt das Servicepersonal mit erhitzten Köpfen und prall gefüllten Tabletts hin und her.
Nun schaukelt das grosse Schiff so sehr, dass die Festbänke und Tische ins Rutschen kommen und jeder froh ist, wenn er noch nicht bedient worden ist, denn das Halten aller Teller und Gläser wird immer schwieriger.
Meine Sitznachbarin bietet mir etwas Mineralwasser an, mein Gegenüber klammert sich an seinen Gutschein, der ihm im Moment auch nicht viel nützt.
Hier unten ist alles dicht und schweissig, keine Luke kann geöffnet werden, denn das Wasser peitscht an die Fenster und die Sicht ist milchig trüb und ungewiss.
Das gemeinsame Auf und Ab und Hin und Her, das plötzliche Miteinander im Takt, die Hilfsbereitschaft beim „Geschirr und Taschen Auffangen“ stimmt versöhnlich und verbindet.
Ich erinnere mich an meine früheren Angst- und Panikattacken in der Kindheit und bin dankbar, dass ich diese überwinden konnte. Doch wohl ist es mir nicht, an eine Bratwurst mit Kartoffelsalat mag ich gar nicht denken.
Da ertönt die Stimme des Kapitäns ins erstaunlich muntere Geschwätz und Geschmatze der Gäste mit der erlösenden Botschaft: „Wegen Sturmwarnung auch für grössere Schiffe und dem hohen Wellengang muss ich leider den Weg zurück an den Heimathafen in Rorschach antreten, wo aber alle noch in Ruhe bestellen und weiteressen können, denn die MS Zürich wird dort anlegen und bis 23 Uhr bleiben.“
Nach unruhigen weiteren 20 Minuten legen wir an, meine Männer haben in der Zwischenzeit Apfelkuchen gegessen und das Gewitter genossen, lassen sich jedoch überreden, nun ein ruhiges Nachtessen in einem Hafenrestaurant zu bevorzugen.
Die Schiffscrew verhält sich vorbildlich und verabschiedet uns mit Bedauern.
Zum Glück bleiben aber viele Gäste sitzen,
denn die Fahrt muss nicht bezahlt werden, und so bleibt wenigstens die Schiffskasse nicht leer.
In der benachbarten wirklich urgemütlichen Pizzeria bekommen wir einen Fensterplatz und geniessen durch die geöffnete Glasscheibe den kühl und unermüdlich prasselnden Regen und die Sicht auf das beleuchtete Schiff – auf dem nun vermutlich alle wieder zufrieden sind – und den inzwischen wieder ruhiger gewordenen See.
Statt Feuerwerk zischen weiterhin Blitze über die Wasserfläche, gefolgt von dumpfem Donnergrollen.
Wir stossen an auf friedliche und ruhige Zeiten.
Mein Mann bedauert, dass der Kapitän die Fahrt nicht fortgesetzt hat, jetzt, wo der See sich wieder ruhig zeigt.
Ich gebe jedoch zu bedenken, dass der Schiffsführer vielleicht beobachtet hat, wie schnell überfordert und streitsüchtig manche seiner Gäste sich schon beim Einsteigen zeigten.
An ein erfolgreiches Rettungsmanöver all dieser Hitzköpfe, der kleinen Kinder und der älteren zum Teil gehbehinderten Menschen bei Seenot mag ich gar nicht denken.
Unser Sohn meint zu mir: „Nun kann ich verstehen, warum Du früher Panikgefühle in der Menge hattest. Eigentlich muss man sich wundern, dass nicht alle Menschen Angst davor haben, wie schnell die gute Stimmung kippen und Sturm und Drang manche Leute zum Egoisten machen oder unerwartet heftige Gefühle friedlich Wartende zu egoistisch Drängenden und Streitsüchtigen verwandeln.“
Könnte der Wunsch nach einem guten Sitzplatz und unerwartete Regentropfen beim Warten für eine Massenpanik schon reichen?
Und was wäre, wenn wirklich stürmische Zeiten nachfolgen würden?
Dass der Kapitän dies gar nicht erst erfahren wollte und seine Crew sich so souverän verhielt, dafür bin ich noch bis zum Dessert am Regenfenster dankbar.
Gut, dass man nicht alles wissen und erleben, sich nicht mehr immer aus dem Fenster lehnen muss und es ein schützendes Ufer gibt, wenn es im Innern brodelt.
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